In der Mitte sieht man Achtsamkeit selbst – also das bewusste, möglichst urteilsfreie Erleben dessen was sich gerade abspielt und wie es sich abspielt. Darauf gehen wir weiter unten noch viel genauer ein.
Darunter sieht man das Kultivieren anderer, teilweise verwandter Fähigkeiten oder Qualitäten, die sowohl zur Entwicklung von Achtsamkeit, aber eben auch direkt zu unserem Wohlbefinden beitragen. Dazu gehören in der Buddhistischen Tradition bzw. im MBSR solche Dinge wie Wohlwollen, Geduld, Beruhigungsfähigkeit, Aufmerksamkeitslenkung und so weiter.
Darüber sieht man ethisch und emotional intelligentes, lebenskluges Entscheiden und Handeln. Im Buddhistischen Kontext sind das unter anderem Dinge wie „Sila“ (Ethik) oder auch wie es so schön heißt „Weises Erwägen“. Also eher Faktoren, die die konkrete Lebensführung betreffen. Was ist gut für mich und andere? Was wäre klug in dieser Situation? Etc.. In modernen Kontexten könnten auch viele Methoden der Psychotherapie in diesen Bereich gehören. Z.B. die kognitive Therapie, mit ihren Versuchen, „klügeres“ Verhalten möglich zu machen oder schädliche Glaubenssätze zu korrigieren.
Während alle drei Ebenen wirksam sein können – und während es darüber hinaus noch weitere Faktoren geben mag, die in anderen Traditionen wichtig sind – ist die mittlere Ebene, die Achtsamkeit dasjenige, was für die Achtsamkeitspraxis typisch und kennzeichnend ist. Ohne sie würde die untere Ebene des Kultivierens „positiver Qualitäten“ zum gewöhnlichen Lustprinzip und Streben nach Perfektion oder Angenehmem verkümmern. Und die obere Ebene des weisen Erwägens und Handelns würde zu aufreibendem Grübeln oder zu Prinzipienreiterei werden, wie wir es ohnehin im Alltag allzu häufig betreiben.
Daher konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Mechanismen der Achtsamkeit im engeren Sinne, wie es der Titel des Artikels bereits ankündigt – und so wie es das MBSR Curriculum in weiten Teilen auch tut.
.
Wirkmechanismen der Achtsamkeit:
Die Definition von Achtsamkeit besagt, dass es um ein sozusagen „schlichtes“ Bewusstsein der Vorgänge im Geist und Körper geht, die im aktuellen Augenblick auftauchen. Warum trägt so etwas also zu unserem Wohlbefinden bei? Wie soll „einfach nur wahrnehmen“ denn Abhilfe schaffen?
Um das zu verstehen, hilft es vielleicht, sich klar zu machen, was das Gegenteil dieser „Schlichtheit“ und auch von Wohlbefinden wäre – also dasjenige, was wir gerne loslassen oder sein lassen würden. Was wir nämlich gerne sein lassen würden, sind die Eskalationen negativer Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, in denen wir uns verlieren, die wir aufrechterhalten und mit denen wir hadern. Wir können es „unsere Muster“ nennen, „Neurosen“, „Nicht-Klarkommen“ oder auch einfach „Leiden“. All diese Dinge sind nämlich nicht „schlicht“ und sicherlich auch kein „Wohlbefinden“. Was uns auch schon zum ersten Wirkmechanismus von „Achtsamkeit vs Leiden“ führt:
1. De-Eskalation durch Beobachten
Diese Perspektive ist verblüffend simpel. Wenn Achtsamkeit schlichtes Wahrnehmen und Gewahr-Sein ist, dann ist es per se schon mal nichts, was das innere Leiden, also quälende Gedanken, Gefühle usw. anstachelt und eskalieren lässt. Es ist als würde man ein Feuer im Kamin beobachten – ohne einzugreifen, ohne weiteres Holz hineinzulegen oder „Öl ins Feuer zu gießen“ und ohne Luft zuzufächeln. Das Feuer wird dann nicht größer und es wird sogar irgendwas erlöschen. Auf Empfindungen, Gedanken und Gefühle übertragen ist es dann so, dass wir sie beobachten und fühlen, ohne damit zu ringen, ohne sie zu verurteilen und zu manipulieren. Und allein das entzieht den Empfindungen, Gedanken und Emotionen ihre zwingende, fesselnde Kraft. Einfach weil wir nicht gleich reagieren, uns nicht hineinstürzen oder uns im „managen“ der Gedanken und Gefühle verstricken. Wer wirklich nur wahrnimmt – der vermeidet an sich schon die innere Eskalation. Man „enthält sich“ sozusagen der Eskalation.
2. Weniger Automatismen
Die zweite Perspektive hat mit dem Gegensatzpaar „automatisch vs. bewusst“ zu tun. „Mindfulness“, also Achtsamkeit kann hier als das Gegenteil vom Autopilot-Modus verstanden werden, in dem wir weite Strecken unseres Alltags verbringen. Sehr vieles denken und tun wir halb-bewusst, reflexhaft & scheinbar nicht steuerbar.
„Bei mir ist es einfach so, dass...“. „Ich kann da nichts dran ändern.“ Solche Aussagen sind oft Anzeichen von automatisch ablaufenden Mustern und Reaktionen. Die unterliegen nur teilweise der bewussten Kontrolle und manchmal bekommen wir sie nicht einmal wirklich mit. Die Achtsamkeitspraxis bringt nach und nach etwas mehr Bewusstheit in unsere Reaktionen und ungünstigen Muster. Dadurch entsteht überhaupt erst die Freiheit, anders zu reagieren. Bewusstheit ist also die Voraussetzung von Wahlfreiheit, während unbewusstes, automatisches Agieren und Reagieren im Grunde genommen unfrei macht und uns von leidvollen Mustern nicht loskommen lässt.
3. Weniger „mächtige“ Gedanken & Gefühle
Der dritte Mechanismus kann vielleicht mit „Relativierung“ umschrieben werden. Das meint nicht etwa, dass man Probleme und Sorgen kleinredet, sondern etwas ganz anderes. Es ist eher eine Relativierung, eine „Entkräftung“ von geistigen Phänomenen, die ansonsten übermächtig scheinen.
Gedanken und Emotionen halten uns oft in Angst und Schrecken. Sie lassen kaum zu, dass wir uns irgendetwas anderem zuwenden können. Sie haben eine Wichtigkeit und Aussagekraft, die uns in ihrem Bann hält. Gedanken und Emotionen scheinen absolut gültig. Sie sind unsere Realität, unsere Wahrheit. Wenn wir uns minderwertig fühlen, dann sind wir minderwertig. Es ist dann wirklich – es ist dann Die Wahrheit!
Achtsamkeit, auf Gedanken und Emotionen angewandt, relativiert den Gültigkeitsanspruch von Gedanken und Emotionen. Nicht etwa, weil sie deren Inhalte und Bedeutung bestreitet. Sondern weil sie sie als Gedanken und Emotionen erkennt – also als Phänomene, die im Geist hochkommen und auch wieder vergehen. Die heute vielleicht so sind, morgen aber anders; je nach dem vielleicht, welches Wetter heute ist oder wie gut ich heute geschlafen hatte. Wir erkennen sie als Phänomene, deren Inhalte man glauben kann, oder eben nicht. Wir sehen einerseits, wie flüchtig geistige Phänomene sein können – gerade eben noch da und jetzt schon ersetzt durch den nächsten Gedanken oder etwas anderes. Andererseits fangen wir an, sie und alles was wir erleben etwas weniger persönlich zu nehmen. Es ist vielleicht nicht alles so bedrohlich für meinen Selbstwert, wie es den Eindruck machte. Oder nicht jeder Schmerz ist gleich ein Beweis, dass „bei mir nichts mehr in Ordnung ist“.
All diese Relativierungen kommen nicht zustande, weil wir uns neue Ansichten aneignen – auch wenn das vielleicht unterstützend sein kann. Vielmehr geschieht das, weil wir immer wieder Phänomene erkennen als eben das: als Prozesse im Körper oder im Geist. Ein Gedanke ist einfach ein Gedanke. Eine Emotion eben eine Emotion. Schmerz ist Schmerz. Nicht weniger als das. Aber eben auch nicht mehr. Sie sind nicht unbedingt „was ich bin“. Sie sind nicht unbedingt „die Realität“. Sie sind nicht unbedingt Teil eine Geschichte, die ich begreifen, zu Ende denken oder erzählen muss. Sie sind zwar nicht egal – aber sie sind das, was sie nun mal sind: Phänomene in unserem Gewahrsein.
4. (An-)Erkennen des Leidvollen
Das vierte Wirkprinzip von Achtsamkeit wirkt vielleicht am wenigsten intuitiv nachvollziehbar. Und es ist möglicherweise nichts, was man in den ersten Monaten oder Jahren des Praktizierens auf Anhieb erlebt. Die oberen drei Prinzipien reichen erstmal völlig. Lassen Sie sich also nicht von dem, was jetzt kommt irritieren. Stützen Sie sich erstmal nur auf das, was Sie auch anspricht.
Bei dem vierten Wirkprinzip geht es um ein Ende von Verdrängung. Genauer: um das klare Erkennen des Leidens als leidvoll. Die Achtsamkeit kann ein schlichtes Wahrnehmen der leidvollen Qualitäten des Erlebens, sowie ihrer wahren Quellen entstehen lassen. Jetzt mag man vielleicht denken, dass wir doch ohnehin immer mitbekommen, wenn es uns nicht gut geht oder wenn wir an etwas verzweifeln. Wozu sollte man da noch Achtsamkeit brauchen? Und würde das nicht alles noch schlimmer und intensiver machen? Das sind verständliche Einwände.
Doch da liegt erstaunlicherweise ein Irrtum vor. In der Regel „sehen“ wir unser Leiden nicht wirklich, während es passiert. Wir spüren nicht, welche Qualitäten es hat und wo in uns es herkommt. Wir leiden zwar unter etwas, aber im Grunde versucht unser „Ich“ sich die ganze Zeit davon zu distanzieren, und es am besten gar nicht wahr haben zu wollen. Wir wenden den inneren Blick davon ab. Wir sehen permanent weg, soweit nur möglich. Das fängt an z.B. bei chronischen Verspannungen in Kopf oder Gesicht, die wir kaum bemerken; und geht bis hin zu Beziehungen, Jobs oder eigenen Glaubenssätzen, bei denen wir nicht „klar sehen“, dass sie uns nicht gut tun und dass es uns damit einfach nicht gut geht. Oder wir unterdrücken unsere Angst vor Krankheit oder Versagen, einfach um „funktionieren zu können“. Wir erahnen es im Hintergrund, aber wir wollen uns damit nicht beschäftigen. Selbst beim Lesen dieses Texts ist es vielleicht schon so: allein dass es gerade um Leiden und Unangenehmes geht, will unser Geist irgendwie nicht in sich hinein lassen. Allein das Wort „Leiden“ wollen wir nicht hören. Wir wollen „nichts von Problemen wissen“, wie es so schön heißt.
Ja sogar, wenn wir jetzt aufschreien: „Aber ich weiß doch, dass ich dieses oder jenes nicht tun oder denken sollte! Ich weiß das doch alles!“, ja selbst dann ist es wie eine Art theoretisches Wissen, ein Wissen, das man sich logisch erschlossen hat, von einem Therapeuten oder in einem Ratgeberbuch gehört hat. Es macht den Eindruck, ein Sehen und Verstehen zu sein, aber es sind eher abstrakte Gedanken und Theorien, denen man so halbwegs zustimmt. Es ist kein direktes, schlichtes „Sehen“ des Leidens und seiner Quellen in dem Augenblick, wenn es passiert. Weil unser ganzes Wesen eigentlich nur weg will, statt hinzusehen.
Achtsamkeit hingegen ist kein Sachwissen oder keine „richtige Einstellung“, die „ich eigentlich haben sollte“, sondern ein direktes, schlichtes und klares Erleben und Erkennen dessen, was in Ihnen gerade ist. Es ist wie etwas „mit eigenen Augen gesehen zu haben“, statt es zu glauben. Wenn man Achtsamkeit für leidvolle Aspekte des Erlebens entwickelt, anstatt diese Aspekte aus dem Bewusstsein zu drängen, dann kann etwas ganz Erstaunliches passieren! Wenn der Geist wirklich „sieht“, dass da Leiden ist, dann sieht er auch seine Quellen und er lässt einfach los, was ihn oder andere leiden lässt. Es ist dann ein bisschen so, wie wenn wir einen zu heißen Teller halten – wir stellen ihn einfach so schnell wie möglich ab. Einfach, weil es in unserer Natur liegt, sich an Wohlergehen zu orientieren. Wir wählen in unserer Orientierung am Wohlergehen nur sehr oft den Weg der Verdrängung von Leiden. Achtsamkeit aber ermöglicht einen anderen Weg zum Wohlergehen: den über die Hinwendung und Erkenntnis des Leidens, welches sich oft bereits durch diesen Schritt wie von selbst lindert. So etwas muss man erleben, da es schwer ist, daran vom Lesen allein zu glauben.